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Essen

"Essen ? gespaltene Stadt!"

Gabriele Giesecke, Vorsitzende Linksfraktion Essen

Haushaltsrede 2008 von Gabriele Giesecke (Fraktionsvorsitzende Linksfraktion Essen)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen,


Essen boomt wie seit langem nicht mehr. RWE hat im letzten Jahr wieder einen Spitzengewinn von 6,5 Mrd. Euro eingefahren, Karstadt tätigt am Berliner Platz große Investitionen. Mit dem Thyssen-Krupp-Konzern kommt ein Weltkonzern zurück nach Essen. Die Investitionen der öffentlichen Hand in Bauvorhaben brechen ebenfalls Rekorde.

Aber: Die Aussage, ?wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Menschen gut?, ist schon lange widerlegt. Essen ist eine gespaltene Stadt. Reichtum, Gewinne und auch Investitionen auf der einen, Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit für immer mehr Menschen auf der anderen Seite. Essen hält mit 50 Prozent Langzeitarbeitslosen an der Gesamtarbeitslosigkeit eine traurige Spitzenposition. Die Armut steigt. Bereits jedes dritte Kind in Essen wächst in Armut auf, in einzelnen Stadtteilen sogar jedes zweite Kind.

Der Niedriglohnsektor ist in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet worden, nicht nur auf den Baustellen, mit denen Essen bundesweit negative Schlagzeilen machte. Mit einem Anteil des Niedriglohnsektors von rund 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten ist Deutschland nah dran an US-amerikanischen Verhältnissen. In Essen erhalten 3.600 Menschen zusätzliche Leistungen nach Hartz IV, obwohl sie arbeiten. Mehr noch: Essen ist auch in anderer Hinsicht eine gespaltene Stadt. Der Boom führt nicht dazu, dass die Stadt ihre Haushaltsprobleme lösen kann. Während die Konzerne Jahr für Jahr Spitzengewinne einstreichen, ist die Stadt 2015 pleite ? wobei niemand genau weiß, was das heißt. Privater Reichtum ? öffentliche Armut ist eines der Probleme kapitalistischer Gesellschaften. Die Gewerbesteuern steigen nicht in dem Maße, wie die Gewinne steigen. Die Bundesregierung verschont mit ihrer Steuerpolitik weiterhin die Konzerne. Die Auswirkungen der Steueränderungen zum 1.1.2008 sind dabei noch nicht absehbar. Ein leistungsfähiger Mittelstand, der kontinuierlich Gewerbesteuern zahlt, ist in Essen unterrepräsentiert. Gleichzeitig wälzt das Land weiter ungehemmt Kosten auf die Kommunen ab, auch wenn in Sonntagsreden immer das Konnexitätsprinzip hochgehalten wird. So werden ab dem kommenden Kindergartenjahr durch das Kinderbildungsgesetz, kurz Ki3 biz, Mehrkosten in noch unbekannter Höhe auf die Stadt zukommen. Düsseldorf beschließt, Essen zahlt.



Heute wie in den vergangenen Jahren gilt: Essen kann sich nicht am eigenen Schopf aus der Finanzmisere herausziehen. Darin sind sich Rat und Verwaltungsspitze einig. Deshalb müssen endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden. Herr Oberbürgermeister, Sie haben in Ihrer Rede zur Einbringung des Haushaltes auch bereits eine Verfassungsklage zur Durchsetzung des verfassungsmäßigen Anspruchs der Kommunen auf eine ausreichende Finanzausstattung erwogen. Sie bezeichneten den Schritt als ? ich zitiere ? ?wirklich allerletzte Konsequenz?. Es ist jetzt aber an der Zeit, nicht nur den Mund zu spitzen, sondern auch zu pfeifen. Als erster Schritt müssen dazu die tatsächlichen Bedarfe der Stadt Essen ermittelt werden. Es kann nicht ein, dass die Länder vor allem nach ihrer Haushaltslage die Mittel bereitstellen statt nach dem tatsächlichen Bedarf der Kommunen. Auch der Städtetag hält dies für ein fragwürdiges Verfahren. Deshalb muss möglichst gemeinsam mit anderen Städten die Erfolgsaussicht einer Klage geprüft werden. Andere sind auf diesem Weg schon erfolgreich gewesen. So hat das Landesverfassungsgericht Thüringen einer kommunalen Klage gegen das Land Recht gegeben.

Wegen der fehlenden Vergleichszahlen für 2007 sowie der Unsicherheit über die Steuereinnahmen für 2009 ist es absehbar, dass bei Verabschiedung eines Doppelhaushaltes ein Nachtragshaushalt unumgänglich ist. Deshalb beantragen wir vor, jetzt den Haushalt für 2008 zu verabschieden und den überarbeiteten Plan für 2009 erst Ende 2008 zu verabschieden. Mögliche schwarz-grüne taktische Überlegungen durch einen Doppelhaushalt die Diskussion aus dem Wahlkampf 2009 rauszuhalten, lehnen wir als nicht sachgerecht ab. Einige Akzente beim Haushalt schon jetzt anders setzen


Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Akzente beim Haushalt müssen schon jetzt anders gesetzt werden und das können Sie auch. So sind die Kürzungen bei den Schulhausmeistern ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Wir verweisen auf die große Solidarität, die die Betroffenen bei ihrem Protest von Eltern, Schülern, Lehrern und der breiten Öffentlichkeit erhalten. Das sollte zu einem Umdenken in der Verwaltung und bei der schwarz-grünen Ratsmehrheit führen. Und das schnell. Mit Grausen erinnern wir uns an das monatelange unwürdige Gezerre um Lernmittelfreiheit für Hartz-IV-Kinder. Dies sollte sich auch nicht bei der Einführung eines kostenlosen Mittagessens in Kindertageseinrichtungen wiederholen. Wir sind sehr froh darüber, dass der Jugendhilfeausschuss empfiehlt, kein Kind aus finanziellen Gründen ohne Mittagessen zu lassen. Damit wird von der von schwarz-grün vorgeschlagenen Einzelfallprüfung abgerückt. Die wäre nämlich ein Rückfall in die Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts.


Eigentlich ist ein kostenfreier Besuch von Kindertageseinrichtungen angesagt. Deutschland ist hier weit hinter dem europäischen Ausland zurück. In Finnland ist das selbstverständlich kostenlose und gesunde Mittagessen seit 60 Jahren Bildungsstandard- in Kindertageseinrichtungen wie in Schulen. Die vorschulischen Kindertageseinrichtungen müssen endlich als Teil des Bildungswesens anerkannt werden, einschließlich der Einrichtungen für Kinder unter 3 Jahren. Gerade hier ist Essen besonders schlecht aufgestellt. Der Bedarf wird hier mit einer geplanten Versorgungsquote von 13,8 Prozent im Kindergartenjahr 2008/09 bei weitem nicht gedeckt. Für uns ist es ein Minimalziel, dass wenigstens alle Kinder ein warmes Mittagessen bekommen, denn mit leerem Bauch lernt es sich schlecht. Wir wollen keine Kontrolle im Einzelfall, deshalb binden wir das kostenlose Mittagessen an die vorhandenen Einkommensgrenzen für die Kindertagesstättenbeiträge. Dabei ist wenigstens eine Anhebung der Einkommensgrenzen für die Beitragsfreiheit ein altes Anliegen von uns.

Ein weiterer Punkt ist die Einführung eines Sozialtickets für den Öffentlichen Personennahverkehr. Dieser findet hier im Stadtrat eine erfreulich breite Unterstützung.Ein solches Ticket ist langfristig auch finanziell tragfähig, wie sich in anderen Städten

zeigt. In Köln wurden im ersten Jahr statt veranschlagter 4,5 Mio. Euro nur 1,2 Mio.Euro benötigt, im 2. Jahr werden die Kölner mit 0,9 Mio. Euro auskommen. Das Sozialticketdarf auch in Essen nicht kaputt gerechnet werden. Das Beispiel Köln zeigt:Eine Anschubfinanzierung ist nötig und sie ist zu stemmen.5Sozialpass notwendiger denn jeDarüber hinaus schlagen wir die Einführung eines Sozialpasses vor. Dieser solltezunächst nur die vorhandenen Ermäßigungen zusammenfassen und damit für dieBetroffenen transparent machen. Darüber hinaus sollen diese ermutigt werden, dieVergünstigungen auch in Anspruch zu nehmen. Der Sozialpass ist dann der Ausweisfür die Inanspruchnahme von Ermäßigungen. Der Sozialpass sollte auch der Nachweisfür die Anspruchsberechtigung für ein Sozialticket sein, damit ließe sich derVerwaltungsaufwand beim Vertrieb des Sozialtickets deutlich minimieren.Gerade im Hinblick auf das Kulturhauptstadtjahr 2010 sollte der Sozialpass dafürsorgen, dass niemand von Angeboten ausgeschlossen wird. Der im Regelsatz vonHartz IV vorgesehene Anteil für ?Sport- und Freizeitveranstaltungen? von 6,27 Euroreicht nicht mal für einen Theater-, Opern- oder Kinobesuch, ohne Ermäßigungen istan Teilhabe gar nicht zu denken.Die Einführung einer Familienkarte kann einen Sozialpass nicht ersetzen, sie greifthier einfach zu kurz. Sie begünstigt vorrangig Mittelschichtfamilien und bringt denärmeren Familien fast nichts und Einkommensschwachen ohne Kinder gar nichts.Beschäftigung fördernDie Arbeitslosigkeit ist ein weiteres Kernproblem in Essen. Beschäftigungsförderungmuss als kommunales Handlungsfeld ausgebaut werden. Gerade Essen hat hier einelange Tradition, Beschäftigungsprogramme wurden zwischen den Akteuren desEssener Konsens einvernehmlich ausgestaltet. Aktuell ist die Nutzung der Chancendes neuen § 16a SGB II vordringlich. 7,1 Mio. Euro stellt der Bund in Essen für dieSchaffung von zusätzlichen, dauerhaft geförderten Beschäftigungsverhältnissen zutariflichen Bedingungen zur Verfügung. Zielgruppe sind die besonders benachteiligtenLangzeitarbeitslosen, die auf dem 1. Arbeitsmarkt absehbar aktuell keine Chancenhaben. 500 Stellen ließen sich in Essen fördern, der Arbeitgeber muss lediglicheinen Eigenanteil von 25 Prozent der Lohnkosten aufbringen.6Jetzt muss schnell gehandelt werden, wenn nicht für das Jahr 2008 Gelder für Langzeitarbeitsloseverloren gehen sollen. Da ist es völlig unzulänglich, wenn CDU undGrüne die Schaffung von Arbeitsplätzen auf die freien Verbände beschränken wollen.Wir wollen, dass die Stadt selber als Arbeitgeber zusätzliche Arbeitsplätze einrichtetoder den aufzubringenden Eigenanteil bei gemeinnützigen Trägern übernimmt.Ein Engagement, das sich für die Stadt schnell rechnet, denn sie spart anden Kosten der Unterkunft.In Bereichen wie ?Wege zum Wasser? sollten jetzt endlich die unwürdigen 1-Euro-Jobs durch versicherungspflichtige Beschäftigung ersetzt werden. Es ließen sich abersicher noch mehr Felder auftun, an Aufgaben mangelt es nicht. So entstehtdurch die weitere Alterung der Menschen ein Bedarf an haushaltsnahen Dienstleistungen.Essen und Dortmund sind die einzigen Städte, die ein interkulturelles Kulturkonzeptentwickeln. Das ist sehr begrüßenswert. Allerdings muss die Finanzierung gesichertsein, dies gilt für das gesamte interkulturelle Konzept. So sind die Migrantenvereineunersetzbare Partner, deren meist ehrenamtliches Engagement sehr wichtig für einfriedliches und soziales Miteinander ist. Die Förderung einer hauptamtlichen Stellebeim Verbund der Migrantenvereine darf nicht zu Lasten der Zuschüsse für die Vereinsarbeitgehen.Der Stadtrat hat sich mehrheitlich für ein Kommunales Wahlrecht für Migrantenausgesprochen und damit für eine verstärkte demokratische Partizipation. Auch unterhalbdieser Regelung muss die Bedeutung des Integrationsbeirates und des Integrationsausschussgestärkt und ihre Anliegen müssen ernster genommen werden.Nicht unangesprochen lassen möchte ich lange schwelende ungelöste Probleme,wie etwa die Sicherung des Aufenthaltsstatus der sogenannten ?Ungeklärten Staatsangehörigenaus dem Libanon?. Die Bleiberechtsregelung böte für einige Menscheneine Lösung ? allerdings den guten Willen der Ausländerbehörde vorausgesetzt.Herr Oberbürgermeister, bitte machen Sie dies zur ?Chefsache?. Uneingelöst ist weiterdas schwarz-grüne Versprechen, eine kommunale aufenthaltsrechtliche Beratungskommissionfür die Erörterung besonderer Flüchtlingsschicksale einzurichten.7Mehr BürgerbeteiligungHerr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen,noch ein paar Schlussbemerkungen. Trotz privatem Reichtum und öffentlicher Armut:Bei bestimmten Leuchtturmprojekten ist die Verwaltungsspitze mehr als findig,trotz leerer Kassen zu Lösungen zu kommen und beträchtliche Mittel bereit zu stellen.Mit Hochdruck wird hinter den Kulissen nach der Finanzierung eines neuen Rot-Weiss-Stadions gesucht. Wir haben einen städtischen Anteil von 7,5 Mio. Euro immerbefürwortet. Aber den Handelshof oder andere städtische Immobilien für einebeträchtliche Erhöhung des städtischen Anteils zu versilbern, ist mit uns nicht zumachen. Alles andere ist den übrigen Sportvereinen, die z.T. schmerzliche Einschnittehinnehmen mussten und müssen, nicht zu vermitteln. Darüber hinaus: Rot-Weiss-Essen muss seine Hausaufgaben machen und seine Strukturen ordnen undsportliche Leistungen bringen. Der Stadionneubau ist nicht zuletzt auch Wirtschaftsförderung,die Wirtschaft steht also auch bei der Finanzierung im Wort. Nebenbei:Mit einem Bruchteil der Gewinne, die der Energiekonzern EVONIK Fernwärme ausder Verlängerung der Fernwärmegestattungsverträge einfährt, ließe sich das Stadiondoch locker sponsern.Auf keinen Fall darf Zollverein zu einem Fass ohne Boden werden, die schwarzgrüneRatsmehrheit kennt hier anscheinend keine Schmerzgrenze, während sonstjeder Euro dreimal umgedreht wird.In der Kultur dieser Stadt sind die Kleinkunst und die freie Szene als wichtige kulturelleImpulsgeber nicht zu unterschätzen. Ihrer Förderung ist größerer Raum zu geben.Im Rahmen der Kulturhauptstadt nur große Prestigeobjekte zu fördern ist einIrrweg. Wir legen dazu heute noch einen Vorschlag vor. Demnach könnte durch dieEinrichtung einer Stiftung zur Verwendung der Sparkassenspenden Mittel bereitgestelltwerden ? und das in einem transparenten Verfahren.Kommunale Selbstverwaltung ernst nehmen heißt auch mehr Bürgerbeteiligung zuorganisieren. Die ist eine der Zukunftsaufgaben für die Stadtgesellschaft. Bürgerbeteiligungist auch und gerade im Sportbereich gefordert. Die Verwaltungsspitze sollteaus den Fehlern, die hier bei der Umsetzung des Masterplanes Sport gemacht wur8den, lernen. Die Diskussion um das Bäderkonzept ist gerade erst angelaufen. Einsist für uns jetzt schon sicher: Kein Freibad nördlich der A40 offenzuhalten, ist mit unsnicht zu machen, hier darf die Nord-Süd-Spaltung unserer Stadt nicht weiter zementiertwerden. Wir unterstützen den Antrag von CDU und Grüne zur Bereitstellung vonHaushaltsmitteln für die Sportanlagen und Bäder. Allerdings gilt nach wie vor, dasserst nach breiter Beteiligung der Öffentlichkeit und nach Feststellung der Bedarfe,Entscheidungen getroffen werden können.Mehr Bürgerbeteiligung ist auch in Haushaltsfragen nötig, hier ist Essen steinzeitmäßigrückständig. Köln und andere Großstädte machen gute Erfahrungen mit derBürgerbeteiligung, z.B. über Beteiligungsangebote im Internet, die sich auf Essenübertragen lassen. Gerade die bezirkliche Ebene würde sich für Einstiegs-?Experimente? bestens eignen, denn hier sind die Bürger besonders über die Verhältnisseinformiert. In Sachen Bürgerbeteiligung muss sich in Essen schnell etwasbewegen.Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen,ich hatte eingangs festgestellt, dass die ?Boomtown? Essen eine sozial gespalteneStadt ist. Der vorliegende Haushaltsentwurf enthält nur wenige, völlig unzureichendeAnsätze, daran etwas zu verändern. Wir lehnen den Haushaltsentwurf deshalb ab.